Ortsansässige Unternehmen funktionieren teilweise noch wie früher, obwohl sie ebenfalls von den vielfältigen Möglichkeiten der Digitalisierung profitieren könnten. Lesen Sie hierzu ein Interview, welches unser Geschäftsführer Andreas Franken IL BERNINA gegeben hat. Hier finden Sie das Interview im Original bei IL BERNINA und weiter unten in der deutschen Übersetzung.

Leben und arbeiten in Valposchiavo.

In Poschiavo erleben wir nicht nur Ab-, sondern auch Zuwanderung. Teilweise aus der Schweiz und teilweise aus anderen Ländern. Für die Redaktion von IL Bernina ist es interessant zu erfahren, was Menschen aus dem Ausland dazu veranlasst, ihren Lebensmittelpunkt nach Poschiavo zu verlagern. Deshalb haben wir uns mit jemandem unterhalten, der diesen Schritt bereits im Jahr 2020 unternommen hat.

Redaktion: Herr Franken, Sie sind Deutscher und stammen aus der Metropole Ruhrgebiet mit mehr als 5,1 Millionen Einwohnern. Was hat Sie dazu veranlasst, Ihren Lebensmittelpunkt ins abgeschiedene Poschiavo zu verlagern?

Franken: Das verdanke ich meiner Ehefrau, denn als sie vor ca. 12 Jahren im Rahmen ihrer Suche nach einem neuen Urlaubsziel auf den Artikel „Das vergessene Tal“ stiess, war klar, dass wir unsere nächsten Ferien in Poschiavo erleben würden. Als Grossstädter war für uns besonders reizvoll, in eine nicht vom Tourismus überlaufene Region zu reisen, die in puncto Natur viel zu bieten hat. Bei Beendigung des 14tägigen Urlaubs empfanden wir dann aber so viel Trennungsschmerz, dass wir uns wechselseitig versprechen mussten, Poschiavo alsbald wieder zu bereisen. Gesagt, getan. In den Folgejahren verbrachten wir viel Zeit in Poschiavo und im Jahr 2020 zogen wir ins Dorf, um dort zu leben und zu arbeiten. In Valposchiavo haben wir keine Allergien und fühlen uns wegen der wunderschönen Natur, der reinen Luft, des klaren Wassers, der naturbelassenen Lebensmittel und der liebenswerten Menschen so wohl, wie nie zuvor im Leben.

Redaktion: Also waren es eher gesundheitliche Gründe?

Franken: Auch, aber nicht nur, denn uns ist es wichtig, dass wir uns wohlfühlen. Und eine Lebensqualität wie hier im Dorf hatten wir bislang noch nirgendwo erlebt.

Redaktion: Das Wohlfühlen ist das Eine, aber die meisten Menschen müssen auch Geld verdienen. Wie haben Sie dieses Problem gelöst? Oder sind Sie reich, sodass Sie sich diese Gedanken nicht machen müssen?

Franken: [Lacht] Nein, meine Frau und ich sind nicht reich. Wir arbeiten bei der SMOC, einem auf Consulting, Cloud-, Abrechnungs- und weitere Dienstleistungen spezialisiertes Unternehmen. Ich bin Unternehmensberater und die Dienstleistungen der SMOC können von fast jedem Ort der Welt aus erbracht werden, an dem ein schnelles Internet zur Verfügung steht. Deutschland leidet an Umweltverschmutzung und Fachkräftemangel und auch andere Rahmenbedingungen sind weniger optimal, sodass wir nicht die Einzigen sind/waren, die das Land verlassen haben. Wir haben Deutschland aber nicht komplett den Rücken gekehrt, sondern betreiben dort noch Firmen, sind aber die überwiegende Zeit in der Schweiz.

Redaktion: das klingt interessant. Sie nutzen unser schnelles Internet also zur Realisierung Ihrer Unabhängigkeit? Ich dachte bislang, dass es für die meisten Menschen eher attraktiver ist, in der Ferne zu arbeiten.

Franken: Das war früher sicher auch so, aber die Digitalisierung ermöglicht ein Umdenken. Als Unternehmensberater habe ich mich naturgemäss auch mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Poschiavo befasst. Interessant ist zu beobachten, dass vieles noch wie früher funktioniert. Einerseits gibt es den Tourismus, aber dieser konnte zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd an die Ertragskraft des benachbarten Engadin heranreichen, wodurch das Tal seine Ursprünglichkeit behielt. Und andererseits existieren viele kleinere / mittlere Unternehmen mit einer primär regionalen Geschäftstätigkeit, die ihrer jeweiligen Arbeit auch nachgehen können, ohne den „Mechanismen der Globalisierung“ zu folgen. Die wenigen großen Arbeitgeber wie RhB und Repower sind ebenfalls zu erwähnen, aber Repower hat sich analog meiner Wahrnehmung in den vergangenen Jahren zunehmend aus Poschiavo zurückgezogen. Möglicherweise deshalb, weil man in anderen Regionen günstigere Rahmenbedingungen vorfindet, wie beispielsweise bessere Möglichkeiten, an qualifiziertes Personal zu kommen. Mir stellt sich die Frage, wie sich das Puschlav zukünftig entwickeln wird? In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die Geschichten über die Zuckerbäcker, die damals Poschiavo verlassen haben, um ihr Geld in der Ferne zu verdienen, vermögend ins Dorf zurückkehrten und teilweise beeindruckende Palazzi bauten. War es nicht schon immer so, dass man dorthin reisen musste, wo es Arbeit gab? Und auch heute ist es in Poschiavo so, dass junge Menschen das Dorf verlassen, um fürs Leben zu lernen und zumeist nicht wiederkommen, weil es in der Ferne lukrativere Arbeitsangebote für sie gibt. Aus meiner Perspektive ist diese Logik aber nicht mehr zeitgemäss, denn die Digitalisierung bietet Möglichkeiten, quasi von jedem Ort der Welt aus einen anderen Ort mit Botschaften, Dienstleistungen und Produkten zu erreichen, sofern die „Klaviatur der Digitalen Möglichkeiten“ beherrscht wird. Man kann dieser Tage durchaus abgeschieden im Paradies leben und dennoch von der Ertragskraft der grossen Metropolen profitieren, wenn man es klug anstellt. Auf digitalem Weg kann fast jeder Mensch erreicht werden, denn fast jeder verfügt über Internetzugänge. Mit smarten Konzepten können Menschen motiviert werden, zu einem zu kommen. Viele Produkte und Dienstleistungen können mit digitalen Mitteln in die gesamte Welt verkauft werden. Im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit in Poschiavo erbringe ich beispielsweise Beratungs-, Abrechnungs, Cloud- und Organisationsdienstleistungen für Unternehmen, die tausende Kilometer entfernt sind. Von meinem Büro in Poschiavo aus – bei reiner Luft, klarem Wassers, naturbelassenen Lebensmitteln und liebenswerten Menschen.

Redaktion: Bei Ihnen klingt das so, als ob jeder es Ihnen gleichtun könnte.

Franken: Vielleicht nicht jeder, aber Ich bin mir sicher, dass viele Geschäftsmodelle lokaler Unternehmen ebenfalls dergestalt angepasst werden können, dass sie ihre Geschäftstätigkeit regional ausweiten, ohne den Standort aufgeben zu müssen. Ich bin davon überzeugt, dass die Nutzung der Digitalisierungsmöglichkeiten sehr vielen ortsansässigen Unternehmen jede Menge Rückenwind verschaffen würden, was zu einer Maximierung des lokalen Wohlstands und einer nachhaltigen Belebung des Puschlavs führen würde. Verstehen Sie mich bitte nicht miss, ich schätze die Ruhe und Reinheit, aber der Rückenwind wie ich ihn mir vorstelle würde diese nicht gefährden, sondern vielmehr deren Erhalt sicherstellen und eine Verödung der Region vermeiden. Aber wie es sich auch entwickeln sollte, sich selbst überlassen oder proaktiv gestaltet, meine Ehefrau und ich haben in Poschiavo ein wunderschönes Zuhause gefunden und einen Weg, wie wir im Paradies wohnen und arbeiten können. Dafür sind wir sehr dankbar.

Redaktion: Herr Franken, wir danken Ihnen dafür, dass Sie Ihre Sichtweise mit uns geteilt haben und heissen Sie und Ihre Ehefrau in Poschiavo herzlich willkommen.

Dieses Interview führte Maurizio Zucchi